Von wegen „ich, ich, ich“: Wiener Kollektive blühen

Jungen Menschen wird ein Egoismus-Problem zugeschrieben. Die Wiener Kollektiv-Szene zeigt aber: das Miteinander ist intakt.

Sind wir alles Egoist:innen?

Dieser Artikel fundiert auf einer Zuschreibung. Eine Zuschreibung, die plakativ und eindimensional ist. Ü-40-Journalist:innen schreiben gerne darüber und die Generation Z scheint zuzustimmen: Unter mit Begriffen wie „Main Character Syndrome“ versehrten TikToks und Reels wird aktuell intensiv über die vermeintliche Tatsache diskutiert, dass die Gesellschaft, insbesondere junge Menschen, immer egozentrischer werden würden. Der Individualismus nehme Überhand an, der Sinn für das Gemeinsame ginge verloren.

Die Gründe dafür: Social Media, zunehmender Leistungsdruck, Kapitalismus. Einleuchtend. Und womöglich ist an der Sache auch was dran. Aber bedeutet eine gesteigerte Selbstwahrnehmung gleich das Ende jeglicher Solidarität?

Das „S“ in Solidarität steht für Selfie

Individualismus und Kollektivismus können koexistieren. Beziehungsweise tun sie es. Man beachte jene Instagram-Models, die ihre durch Selbstdarstellung generierte Reichweite nutzen, um auf gesellschaftliche Themen aufmerksam zu machen. Es gilt, wie bei so vielen Dingen, eine gesunde Balance zu finden, zwischen ich und wir – und das gelingt insbesondere der Generation Z gut.

„Wir gehen uns am Morgen die Nägel machen und diskutieren am Nachmittag beim Kaffee mit Freund:innen über weltpolitischen Ereignisse. Dann posten wir ein cutes Selfie und gehen fürs Klima demonstrieren.

Maja – Studentin aus Wien

Zudem reden junge Menschen über Gefühle und Bedürfnisse wie keine Generation vor ihnen und erlauben sich gegenseitig, diese zu kommunizieren und zu achten. Eine Entwicklung, die auf Solidarität, gegenseitigem Vertrauen und Verständnis basiert.

Da geht was – Die Wiener Kollektivkultur

Die Trendforschung besagt, dass die Individualisierung am Peak angelangt sei – das Bedürfnis nach Zusammenschluss nehme wieder zu. Gerade in Wien ist das spürbar.

In Wien herrscht eine weitreichende Kollektivkultur, oder in anderen Worten, in Wien gibt es viele Kollektive. Gruppen von Menschen, sie sich zusammentun, um gemeinsam zu bewegen. Um gemeinsam einer Leidenschaft nachzugehen oder sich einzusetzen oder eine gute Zeit zu haben. Sie veranstalten Partys und machen Kunst, kultivieren öffentlich zugängliche Räume, schaffen Bewusstsein und schreien ihre Anliegen an Demos auf die Straße. Sie organisieren feministische Sitzkreise oder Sex-Positive-Flohmärkte und pflanzen Gemüse an.

Und ihr Wirken strahlt aus.

Amore AG

Amore AG

Amore AG ist ein Wiener Musik- und Awareness-Kollektiv. Seit 2022 organisiert das Kollektiv Partys und Events, bei denen Achtsamkeit nicht beiläufig behandelt, sondern in den Mittelpunkt gestellt werden. Die #TechnoMeToo-Bewegung (Wien, 2023) zeigte auf, dass im Wiener Nachtleben sichere Räume fehlen, Kollektive wie Amore AG schaffen sie. Sie leben vor und setzen Maßstäbe. Mit Effekt. Auch wenn es bei der Umsetzung noch viel Luft nach oben gibt, die Forderung nach gewaltfreien Strukturen hat mittlerweile auch die großen Player erreicht.

Die Wiener Party-Szene ist geprägt von vielen eigenständig organisierten Gruppen. Die Kollektive koexistieren nicht nur – es wird auch viel kollaboriert. Es sein ein Hand-in-Hand, mit viel Austausch und gegenseitiger Unterstützung.

„Zusammen können wir den namhaften Clubs ein Gegengewicht bieten und Themen Gehör verschaffen.“

Elli von Amore AG

Kollektiv Kaorle

Kollektiv Kaorle. © Timo Bogataj

Zuerst war Kollektiv Kaorle ein Freundeskreis mit einer gemeinsamen Werkstatt. Aus der Werkstatt wurde ein Gassenlokal und aus dem Gassenlokal eine multidisziplinäre Stätte in Ottakring. Mit Café, Atelier und Co-Working-Space. Die Räumlichkeiten sind öffentlich zugänglich, für bisschen Mitgliederbeitrag und Mitanpacken kann sie jede*r nutzen.

Das Areal ist auch Schauplatz regelmäßiger Veranstaltungen – Konzerte, Ausstellungen, Performancekunst. Gerade auf Bezirksebene sorgen Kollektive wie Kollektiv Kaorle für Austausch und Teilnahme – für Begegnung und Diskurs.  

„Wir schaffen niederschwelliges Kulturprogramm für Nachbarschaft und Umgebung.“

Agnes von Kollektiv Kaorle

Ihr Mietvertrag in Ottakring läuft bald aus, im Oktober muss Kollektiv Kaorle weiterziehen. Die Suche nach einer neuen Location hat soeben gestartet. Ein neuer Raum bedeute immer auch Raum für neue Ideen und Projekte, neue Beziehungen und ein neues Miteinander.

Kollektiv Kaorle. © Sarah Cruz